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Das Kindesinteresse bei einer strafrechtlichen Landesverweisung eines Elternteils

  • Autorenbild: Nievergelt & Stoehr
    Nievergelt & Stoehr
  • 27. Aug.
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 8. Sept.

Der schmale Grat zwischen Kindeswohlprüfung und öffentlichem Interesse - Die Gewichtung von Art. 8 EMRK bei einer Landesverweisung nach Art. 66a StGB


Das Gericht kann von einer Landesverweisung absehen, wenn ein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 des schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB | SR 311) vorliegt. Dieser liegt insbesondere dann vor, wenn das in Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte 
und Grundfreiheiten [EMRK | SR 0.101] verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme (Landesverweisung) verletzt wird.Allerdings führt nicht jede Landesverweisung einer Person, die ein minderjähriges Kind in der Schweiz hat, automatisch zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die aktuelle Rechtsprechung.


Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Kindern und ihren Eltern


Minderjährige Kinder teilen grundsätzlich das ausländerrechtliche Schicksal des obhutsberechtigten Elternteils. Wird dieser ausgewiesen, ist das Kind faktisch gezwungen, die Schweiz zu verlassen.[1] Daraus ergibt sich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem von der Landesverweisung betroffenen Elternteil. Diesem Abhängigkeitsverhältnis muss im Rahmen einer Kindeswohlprüfung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände Rechnung getragen werden.[2]

Ist ein Kind gezwungen, das Land mit dem Elternteil zu verlassen, sind insbesondere die praktischen Herausforderungen zu berücksichtigen, auf die das Kind im Zielland treffen könnte – zum Beispiel sprachliche Barrieren, kulturelle Unterschiede, fehlende soziale Kontakte oder der Wechsel in ein neues Schulsystem. Diese Aspekte sind gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zwingend in die Interessenabwägung einzubeziehen.[3] Kinder haben grundsätzlich ein Recht darauf, mit beiden Eltern aufzuwachsen.[4] 

Ist ein Elternteil zwar sorgeberechtigt, aber nicht obhutsberechtigt und von einer Landesverweisung betroffen, setzt die Annahme eines persönlichen Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB voraus, dass eine besonders enge Beziehung zum Kind besteht, die nach einer Landesverweisung faktisch nicht mehr aufrechterhalten werden kann.[5] Eine solche besonders enge Beziehung nimmt das Bundesgericht nur dann an, wenn das Besuchsrecht nicht bloss formal, sondern regelmässig, intensiv und tatsächlich gelebt wird.[6] Massgebend ist dabei stets das Kindeswohl, das bei der Interessenabwägung im Vordergrund steht.[7] 

Eltern, die weder obhutsberechtigt noch sorgeberechtigt sind, haben nur eine beschränkte Beziehung zu ihrem Kind, indem sie ihr Besuchsrecht wahrnehmen. Das Bundesgericht erachtet es deshalb als ausreichend, wenn der von der Landesverweisung betroffene Elternteil dieses Besuchsrecht im Rahmen von Kurzaufenthalten, Ferienbesuchen oder über moderne Kommunikationsmittel wahrnimmt. Da hierfür kein dauerhafter Aufenthalt in der Schweiz erforderlich ist, wird in solchen Fällen regelmässig kein persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB angenommen.[8]

Das Bundesgericht hat klargestellt, dass bei einer intakten Familie mit gemeinsamem Sorge- und Obhutsrecht die Landesverweisung eines Elternteils regelmässig zum Abbruch einer eng gelebten Beziehung des Kindes zu einem Elternteil führen würde.[9] Da dies in der Regel nicht im Interesse des Kindes liegt, wird in solchen Fällen grundsätzlich von einem Landesverweis abgesehen – es sei denn, dem anderen Elternteil ist ein Wegzug ins Ausland zumutbar.[10]


Die Zumutbarkeit eines Umzugs ins Ausland


Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bildet das Kindeswohl stets das zentrale Kriterium bei der Beurteilung, ob einem Kind ein Umzug ins Ausland zugemutet werden kann.[11] Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es grundsätzlich nicht dem Kindeswohl entspricht, wenn ein Kind nicht mit beiden Elternteilen aufwächst.[12]

Für Kinder im anpassungsfähigen Alter (ca. 0 – 6 Jahre)[13] gilt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts als grundsätzlich zumutbar, in das Heimatland des von der Landesverweisung betroffenen Elternteils umzuziehen.[14]

Liegt jedoch ein gemeinsames Sorgerecht vor, kann regelmässig ein persönlicher Härtefall bejaht werden, da es dem Kindeswohl nicht entspricht, wenn ein Kind die Schweiz mit dem obhutsberechtigten Elternteil verlassen müsste und dadurch vom anderen, ebenfalls sorgeberechtigten Elternteil, getrennt würde.[15]

Verfügt der von der Landesverweisung betroffene Elternteil über das alleinige Sorge- und Obhutsrecht, so teilen die Kinder in der Regel dessen ausländerrechtliches Schicksal. Anders verhält es sich bei schulpflichtigen Kindern, denn sie gelten nicht mehr als uneingeschränkt anpassungsfähig.[16] 

Ein Umzug ins Ausland ist für sie nur dann zumutbar, wenn sie mit dem Heimatland bereits vertraut sind.[17] Dies ist namentlich dann der Fall, wenn die Kinder die Sprache beherrschen, durch die Familie kulturelle Bezüge kennen, das Land aufgrund gelegentlicher Ferienaufenthalte kennen und familiäre Verbindungen bestehen.[18]

Eine besonders enge Verwurzelung mit der Schweiz verlangt das Bundesgericht in solchen Fällen nicht. Ausschlaggebend bleibt stets das Kindesinteresse.[19] Besteht ein gemeinsames Sorgerecht, ist deshalb regelmässig von einem persönlichen Härtefall auszugehen.


Das Kindeswohl als reine Prozesstaktik


Gemäss Art. 3 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (KRK | SR 107) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Es geniesst in der Schweiz Verfassungsrang (Art. 11 Abs. 1 der Bundesverfassung, BV | SR 101) und gilt als oberste Maxime des Kindesrechts, womit die durch die KRK garantierten Rechte verankert werden.[20] Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor kriminellen Übergriffen und seelischer Beeinträchtigung gehört zu den zentralen Aufgaben des Strafrechts. Diesem Gesichtspunkt ist im Rahmen der Landesverweisung besonderes Gewicht beizumessen.[21]

Vor diesem Hintergrund muss bei straffällig gewordenen Eltern, die sich im Rahmen einer drohenden Landesverweisung auf das Kindeswohl berufen, stets sorgfältig geprüft werden, ob tatsächlich eine Gefährdung des Kindes vorliegt – oder ob es sich lediglich um eine prozesstaktische Massnahme handelt. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist die kriminelle Verhaltensweise eines Elternteils für Kinder stets eine erhebliche Belastung, die sich negativ auf ihr Wohl auswirken kann. Deshalb kann nicht bereits aus dem Umstand, dass ein beschuldigter Elternteil ein minderjähriges Kind hat, auf einen Härtefall geschlossen werden.22] 

Das Bundesgericht berücksichtigt zwar, ob die Kinder vom betroffenen Elternteil als Bezugsperson profitieren könnten, ob ein solches Kindeswohlinteresse tatsächlich besteht, ist jedoch eine sehr subjektive Einschätzung, die von aussen nur schwer zu beurteilen ist. Daher betont die Rechtsprechung, auch wenn das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist, kann im Einzelfall das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung (Sicherheit, Prävention) überwiegen.[23]


Die Gewichtung bei der Abwägung


Wenn ein persönlicher Härtefall bejaht wird, bedeutet dies nicht automatisch, dass von einer Landesverweisung abgesehen wird, vielmehr erfolgt eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse und dem persönlichen Härtefall.[24]

Das Kindeswohl wird in der Rechtsprechung jedoch sehr hoch gewichtet. Bei einer Abwägungsentscheidung, ob das Kindesinteresse, im Rahmen eines persönlichen Härtefalls oder das öffentliche Interesse überwiegt, wird das Kindeswohl stets vorrangig berücksichtigt – aber nicht absolut.[25]

Das private Interesse – und somit auch das Kindesinteresse – wird vom Bundesgericht jedoch dann relativiert, wenn ein Kind gezeugt wird, im Wissen, dass einem Elternteil die Landesverweisung drohen könnte.[26]

Abschliessend lässt sich jedoch kein allgemeiner Grundsatz ableiten, da dem Gericht ein erheblicher Ermessenspielraum bleibt und jeder Sachverhalt einzeln unter Berücksichtigung aller Umstände beurteilt werden muss.



Bei Fragen können Sie uns unter +41 81 851 09 10 oder info@nist-law.ch kontaktieren, wir helfen Ihnen gerne weiter.



[1]  Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.4; BGer Urteil 6B_552/2021 vom 9. November 2022 E. 2.4.2; BGer Urteil 6B_643/2023 vom 8. Januar 2024 E. 1.5.3.

[2]  Vgl. Zurbrügg/Hruschka, BSK StGB, 4. Aufl. 2019, Art. 66a StGB, RZ 79.

[3]  Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.4; BGer Urteil 6B_855/2020 vom 25. Oktober 2021 E. 3.3.2; BGer Urteil 6B_552/2021 vom 9. November 2022 E. 2.4.2; EGMR, Urteil Üner gegen Niederlande vom 18. Oktober 2006, Nr. 46410/99, § 58; Schlegel, Handkommentar StGB, 5. Aufl. 2024, Art. 66a StGB, RZ 12.

[4]  Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.5.1; Schlegel, Handkommentar StGB, 5. Aufl. 2024, Art. 66a StGB, RZ 13; Zurbrügg/Hruschka, BSK StGB, 4. Aufl. 2019, Art. 66a StGB, RZ 125.

[5]  Vgl. BGer Urteil 6B_1314/2019 vom 9. März 2020 E. 2.3.7.

[6]  Vgl. BGer Urteil 2C_449/2019 vom 12. September 2019 E. 4.2; BGer Urteil 6B_1314/2019 vom 9. März 2020 E. 2.3.7.

[7]  Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.5.1.

[8]     Zum Ganzen: vgl. BGE 143 I 21 E. 5.3; BGer Urteil 6B_1314/2019 vom 9. März 2020 E. 2.1.

[9]     Vgl. BGer Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 E. 6.8.3.

[10]    Vgl. BGer Urteil 6B_1508/2021 vom 5. Dezember 2022 E. 3.2.5.

[11]     Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.5.1.

[12]     Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.5.1; Schlegel, Handkommentar StGB, 5. Aufl. 2024, Art.  66a StGB, RZ 13; Zurbrügg/Hruschka, BSK StGB, 4. Aufl. 2019, Art. 66a StGB, RZ 125.

[13]     Vgl. BGE 143 I 21 E. 6.3.6; BGer Urteil 2C_441/2018 vom 17. September 2018 E. 5.2; BGer Urteil 2C_709/2019 vom 17. Januar 2020 E. 6.2.2.

[14]     Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.4; BGer Urteil 6B_49/2022 vom 28. August 2024 E. 3.2.8; BGer Urteil 6B_643/2023 vom 8. Januar 2024 E. 1.5.3.

[15]     Vgl. BGer Urteil 6B_1508/2021 vom 5. Dezember 2022 E. 3.2.5; BGer Urteil 6B_1179/2021 vom 5. Mai 2023 E. 6.8.3.

[16]     Vgl. BGer Urteil 2C_709/2019 vom 17. Januar 2020 E. 6.2.2.

[17]     Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.4; BGer Urteil 6B_49/2022 vom 28. August 2024 E. 3.4.2.

[18]     Vgl. BGE 143 I 21 E. 5.4; BGer Urteil 6B_49/2022 vom 28. August 2024 E. 3.4.2; Zurbrügg/Hruschka, BSK StGB, 4. Aufl. 2019, Art. 66a StGB, RZ 102.

[19]     Vgl. BGer Urteil 6B_49/2022 vom 28. August 2024 E. 3.4.2.

[20]     Vgl. BGE 141 III 328 E. 5.4.

[21]     Vgl. BGE 141 III 328 E. 5.4; BGer Urteil 6B_1314/2019 vom 9. März 2020 E. 2.3.8.

[22]     Zum Ganzen: vgl. BGer Urteil 6B_1314/2019 vom 9. März 2020 E. 2.3.8.

[23]     Zum Ganzen: vgl. BGer Urteil 6B_1314/2019 vom 9. März 2020 E. 2.3.10.

[24]     Vgl. Zurbrügg/Hruschka, BSK StGB, 4. Aufl. 2019, Art. 66a StGB, RZ 38.

[25]     Vgl. Zurbrügg/Hruschka, BSK StGB, 4. Aufl. 2019, Art. 66a StGB, RZ 103.

[26]     Vgl. BGer Urteil 6B_643/2023 vom 8. Januar 2024 E. 1.6.3; BGer Urteil 6B_1104/2023 vom 19. März 2024 E. 1.6.4.

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