Gerichtsverhandlungen per Telefon- und Videokonferenz – Die ZPO-Revision 2025 in der Praxis
- Nievergelt & Stoehr
- 14. Mai
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Aktualisiert: 14. Mai
Während der Corona-Pandemie musste plötzlich vieles digital abgewickelt werden - so auch die Verhandlungen vor Gericht. Um dies zu ermöglichen, erliess der Bundesrat eine Notverordnung[1], die Zivilprozesse temporär per Videokonferenz erlaubte. Diese Übergangslösung ist inzwischen seit dem 1. Januar 2025 fest in der derzeit geltenden, revidierten Zivilprozessordnung verankert.
Einleitung
Im Rahmen der Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO | SR 272) hat das Parlament die Verwendung elektronischer Mittel zur Übertragung von Ton und Bild, insbesondere mittels Videokonferenz, neu geregelt.[2] Seit dem 1. Januar 2025 können die Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen mündliche Prozesshandlungen per Video- und Telefonkonferenz durchführen oder die Teilnahme mittels solcher Mittel gestatten.[3] Die Videoverhandlung soll dabei ermöglichen, Verfahren rasch, einfach und mit moderner Kommunikationstechnologie durchzuführen.[4]
Im Detail
Im Zuge der Revision wurden insbesondere Art. 141a und Art. 141b ZPO geschaffen, welche die Voraussetzungen und Modalitäten für den Einsatz elektronischer Mittel zur Übertragung von Ton und Bild regeln. Es wurde zudem die entsprechende Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ | SR 272.2) in Kraft gesetzt, welche die technischen Voraussetzungen sowie die Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit regelt.[5]
2.1 Anwendungsbereich
Wie sich aus den vorherigen Ausführungen sowie aus der Natur der Sache vermuten lässt, betrifft die neue Regelung ausschliesslich die mündlichen Prozesshandlungen wie z. B. Einvernahmen, Befragungen, Instruktionsverhandlungen sowie Partei- und Schlussvorträge.[6] Nicht davon erfasst sind folglich schriftliche Prozesshandlungen.[7]
Die neue Regelung ist auf sämtliche Verfahrensarten sowie auf bereits pendente Verfahren anwendbar.[8]
2.2 Arten von Videoverhandlungen
Es werden zwei verschiedene Arten von Übertragungen per Video unterschieden: Die vollvirtuelle Videoverhandlung sowie die hybride Videoverhandlung.[9]
Bei der vollvirtuellen Videoverhandlung[10] wird die jeweilige Prozesshandlung ausschliesslich mittels Videokonferenz durchgeführt. Es findet mithin keine Verhandlung im Gerichtssaal statt.[11] Dabei können sowohl die Parteien als auch das Gericht von jedem geeigneten Ort aus teilnehmen, z. B. von zu Hause oder von einem Büro aus.[12]
Bei der hybriden Videoverhandlung[13] findet im Unterschied zur vollvirtuellen Verhandlung weiterhin eine Präsenzverhandlung vor Ort im Gerichtssaal statt und lediglich ein Teil der am Verfahren beteiligten Personen nimmt per Videokonferenz teil. Die Durchführung einer hybriden Videoverhandlung ist in technischer Hinsicht anspruchsvoller als die vollvirtuelle Verhandlung, da hier den per Videokonferenz teilnehmenden Personen auch die Möglichkeit angeboten werden muss, alle Personen im Gerichtssaal (mit Ausnahme der Zuschauer) zu sehen. Umgekehrt müssen sämtliche Personen im Gerichtssaal die per Videokonferenz teilnehmenden Personen visuell und akustisch wahrnehmen können. Aus Praktikabilitätsgründen hat stets ein Gerichtsmitglied persönlich vor Ort zu sein.[14]
Beide Formen der Videoverhandlung kann das Gericht auch nur für einzelne Verfahrensschritte anordnen. Das Gericht hat den Parteien mitzuteilen, in welcher Form es eine allfällige Videoverhandlung anordnet.[15]
Die Durchführung der Prozesshandlung per Telefonkonferenz (d. h. ohne Übertragung des Bildes) ist nur dann zulässig, wenn besondere Dringlichkeit oder andere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen und die betroffenen Personen damit einverstanden sind (Art. 141b Abs. 2 ZPO).
2.3 Voraussetzungen
Der Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung ist erst zulässig, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Erstens wird die Anordnung durch das Gericht verlangt. Die Durchführung von Prozesshandlungen in einer der beiden Formen kann entweder auf Antrag hin vom Gericht gestattet, oder auf Initiative des Gerichts (von Amtes wegen) angeordnet werden.[16] Der Antrag kann sodann von einer oder mehreren Parteien oder von einer weiteren am Verfahren beteiligten Person (z. B. einer sachverständigen Person oder einem Dolmetscher) stammen.[17]
Zweitens müssen die Parteien einverstanden sein, Verhandlungen, Anhörungen und Einvernahmen per Videokonferenz durchzuführen. Das Einverständnis weiterer am Verfahren beteiligten Personen (namentlich Zeugen, sachverständige Personen, Dolmetscher sowie die Angehörigen des Gerichts) ist allerdings keine Voraussetzung.[18]
Drittens darf das Gesetz den Einsatz von elektronischen Instrumenten nicht ausschliessen.[19]
Gesetzlich eingeschränkt ist die Durchführung einer Videoverhandlung ausdrücklich für die Anhörung des Kindes (Art. 298 Abs. 1bis ZPO) sowie insbesondere, wenn die ZPO eine Pflicht zum persönlichen Erscheinen statuiert.[20] Entsprechende Regelungen bestehen namentlich in familienrechtlichen Verfahren (Art. 273 Abs. 2, Art. 278, Art. 297 Abs. 1 und Art. 298 Abs. 1 ZPO) sowie im Schlichtungsverfahren (Art. 204 ZPO) und bei Zeugeneinvernahmen oder bei Parteibefragungen bzw. Beweisaussagen.[21] Sofern die Parteien zum persönlichen Erscheinen verpflichtet sind, ist eine Videoverhandlung dennoch möglich, wenn keine überwiegenden öffentliche oder private Interessen entgegenstehen (Art. 141a Abs. 2 ZPO und insbesondere Art. 170a ZPO allenfalls i. V. m. Art. 187 Abs. 1 ZPO oder i. V. m. Art. 193 ZPO).[22]
Viertens muss die Übertragung von Ton und Bild für sämtliche an der Prozesshandlung beteiligten Parteien in Echtzeit erfolgen. Bei der Durchführung der Videoverhandlung ist jeweils sicherzustellen, dass sämtliche Personen sicht- und hörbar sind.[23]
Schliesslich müssen die Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit bei der Durchführung und der Aufzeichnung stets gewährleistet sein.[24]
2.4 Vor- und Nachteile
Insbesondere die Zeit- und Kostenersparnis durch den Wegfall der Anreise sowie die flexiblere Nutzung der Zeit bei Verhandlungspausen oder -verzögerungen sprechen für die Durchführung einer Videokonferenz.[25]
Die Videoverhandlungen kommen insbesondere bei grosser Entfernung der Parteien vom Standort des Gerichts zum Tragen (Parteien mit Aufenthalt im Ausland)[26], können aber auch die Teilnahme von Zeugen, sachverständigen Personen und Dolmetschern erleichtern.[27]
Gegen eine Durchführung von Videokonferenzen sprechen technische Herausforderungen (Internetverbindung, Hard- und Software, störfreies Umfeld). Die tatsächliche Hauptschwierigkeit wird i. d. R. die technischen Probleme – verursacht durch Verzögerungen in der Übertragung oder unsachgemässer Anwendung des jeweiligen Benutzers – darstellen.[28] Die neuen Gesetzesbestimmungen zum Einsatz elektronischer Mittel regeln nicht, welche Folgen eintreten sollen, wenn die ordnungsgemässe Durchführung der Prozesshandlung infolge einer technischen Störung (z. B. bei Problemen bei der Einwahl oder der Bild- und Tonübertragung) unterbrochen oder nicht möglich ist. Sie werden nach dem Einzelfall beurteilt.[29] Dabei kann es sinnvoll sein, die Parteien bereits bei der Anfrage auf die Säumnisproblematik bei technischen Schwierigkeiten hinzuweisen.[30]
Ein zusätzlicher Nachteil ist, dass die Wahrnehmung einer allfälligen äusseren Beeinflussung einer am Verfahren beteiligten Person bei der Durchführung einer Videoverhandlung grundsätzlich erschwert ist, zumal sich die Vorgänge ausserhalb des übertragenen Bildes der Kontrolle des Gerichts entziehen. Das Risiko einer solchen Beeinflussung lässt sich zum Teil mittels technischer Massnahmen reduzieren (z. B. Verwendung von zwei Kameras oder einer 360-Grad-Kamera; gelegentliches Schwenken der Kamera quer durch den Raum der betroffenen Person), kann jedoch nicht vollständig beseitigt werden.[31]
Schliesslich stellen auch allfällige Lücken in den Sicherheitsvorkehrungen des Datenschutzes und der Datensicherheit, die durch technische Störungen oder durch Cyberangriffe nie vollständig ausgeschlossen werden können, ein Risiko dar, das es bei der Durchführung von Videoverhandlungen nicht zu vernachlässigen gilt.[32]
Fazit
Die ZPO-Revision bringt mit der Regelung zur Durchführung von Video- und Telefonkonferenzen einen bedeutenden Schritt in Richtung Digitalisierung der Schweizer Justiz.
Die neuen Bestimmungen ermöglichen eine flexiblere, zeit- und kostensparende Durchführung von mündlichen Verhandlungen – insbesondere bei räumlicher Distanz oder komplexer Terminplanung. Gleichzeitig stellen sie die Gerichte, die Parteien und ihre Rechtsvertreter vor neue technische und rechtliche Herausforderungen.
[1] Vgl. Verordnung über Massnahmen in der Justiz und im Verfahrensrecht im Zusammenhang mit dem Coronavirus (SR 272.81).
[2] Vgl. Art. 141a und Art. 141b ZPO.
[3] Vgl. Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens vom 14. Februar 2024, Ziff. 1.1, S. 5.
[4] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 1.
[5] Vgl. Art. 141b Abs. 3 ZPO und Art. 1 VEMZ.
[6] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 4; Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 3, Art. 1 Gegenstand, S. 11 f.
[7] Genauer: Eingabe von Rechtschriften; Urteilsberatung des Gerichts – jedenfalls solange sie nicht öffentlich durchgeführt wird (Art. 54 Abs. 2 ZPO); vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 5.
[8] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 4.
[9] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 23.
[10] Art. 141a Abs. 1 ZPO.
[11] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 25.
[12] Vgl. Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.2, S. 5.
[13] Art. 141a Abs. 1 ZPO.
[14] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 28 f.
[15] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 24.
[16] Vgl. Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.2, S. 6.
[17] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 8.
[18] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 18; Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.2, S. 6.
[19] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 19; Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.2, S. 6.
[20] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 20.
[21] Vgl. BGE 141 III 265 E. 4.2; Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 20; obwohl Art. 141a Abs. 1 vom «Gericht» spricht, gelangt die Bestimmung bereits aufgrund ihrer systematischen Stellung auch im Schlichtungsverfahren nach Art. 197 ff. ZPO zur Anwendung; siehe dazu: Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 6.
[22] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 21.
[23] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 32; Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.2, S. 6.
[24] Vgl. Art. 141b Abs. 1 lit. c ZPO; Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 22; Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.3, S. 8.
[25] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 10.
[26] Hierbei sind allerdings insbesondere rechtshilferechtliche Aspekte zu beachten, vgl. dazu ausführlich Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 39 ff.
[27] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 10.
[28] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 13.
[29] Vgl. Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.3, S. 9 und Ziff. 3, Art. 2 Abs. 2, S. 12.
[30] Vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 16.
[31] Zum Ganzen: vgl. Hotz, BSK ZPO, 4. Aufl. 2024, Art. 141a ZPO, RZ 12.
[32] Vgl. Verordnung über den Einsatz elektronischer Mittel zur Ton- und Bildübertragung in Zivilverfahren (VEMZ), Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens, Ziff. 1.2, S. 6; Ziff. 1.3, S. 8.