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Schweizer Verjährungsrecht nicht EMRK-konform

Obwohl die Schweiz erst im Jahr 2020 ihr neues Verjährungsrecht einführte, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz nun erneut verurteilt. Die Verjährung beginnt nach Schweizer Recht nämlich bereits mit dem Ende der schädigenden Handlung zu laufen. Wenn – wie in Fällen von Asbestopfern – die Folgen erst nach Ablauf der Verjährung auftreten, darf ein Gericht eine Klage nicht deswegen abweisen. Doch was bedeutet dies nun für die Schweiz?


Die Asbest-Problematik

Asbest wurde in der Schweiz zwischen 1904 und 1990 verschiedentlich im Hochbau eingesetzt. Gelangt Asbeststaub durch die Atmung in die Lungenbläschen, können bereits geringe Konzentrationen zu Erkrankungen wie Tumoren im Brust- respektive Bauchfell oder Lungenkrebs führen. Zwischen Einatmung und Ausbruch der Krankheit vergehen möglicherweise 40 Jahre oder mehr.[1] War eine Person unfreiwillig Asbeststaub ausgesetzt, kann das Unternehmen oder die Person, welche für den Staub verantwortlich ist, haftbar werden. Diese Forderung kann jedoch verjähren, bevor überhaupt ein Schaden entsteht: Mit dem Ende der schädigenden Handlung beginnt diese absolute Frist zu laufen. Problematisch wird dies, wenn die Frist für die Einreichung einer Schadenersatz- oder Genugtuungsklage im Zeitpunkt des Ausbruchs der Krankheit bereits abgelaufen wäre.


Im Jahr 2014 entschied der EGMR zum ersten Mal, die Schweiz verstosse in diesem Bereich gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK): 2004 erkrankte Hans Moor an einem bösartigen Tumor des Brust-/Rippenfells. Dieser wurde durch die Asbestaussetzung bei seiner Arbeit in einer Maschinenfabrik ausgelöst. Die Schweizer Gerichte jedoch befanden, seine gegen das Unternehmen geltend gemachte Entschädigungsforderung sei bereits verjährt. Die Asbestaussetzung liege bereits mehr als 10 Jahre (der Verjährungsfrist nach altem Obligationenrecht) zurück. Die Witwe des zwischenzeitlich an der Erkrankung verstorbenen Betroffenen zog den Fall an den EGMR weiter. Der Gerichtshof befand, das Recht auf Zugang zu einem Gericht sei verletzt: Die Verjährungsfrist sei zum Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs regelmässig bereits abgelaufen, was nicht mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar sei.[2]


Neues Verjährungsrecht als Folge des EGMR-Entscheids

In der Folge haben sich National- und Ständerat im Jahr 2018 auf ein neues Verjährungsrecht geeinigt. Dieses trat per 01. Januar 2020 in Kraft und sieht nun unter anderem eine längere Verjährungsfrist bei Personenschäden vor. Neu haben Geschädigte ab dem Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses maximal 20 Jahre Zeit, ihre Ansprüche geltend zu machen. Bereits als die Revision beschlossen wurde, gab es Kritik: Bricht eine Krankheit beispielsweise infolge von Asbestaussetzung erst 40 Jahre später aus, ist es noch immer nicht möglich, vor Schweizer Gerichten Schadenersatz oder Genugtuung zu erhalten.


Erneute Verurteilung der Schweiz

Der neue Entscheid des EGMR geht auf die 2009 eingereichte Klage von Angehörigen eines weiteren Asbestopfers zurück. Sie verlangten wiederum eine Entschädigung von einem Asbest verarbeitenden Betrieb, da ihr verstorbener Vater beziehungsweise Ehemann an durch Asbest verursachtem Krebs gestorben war. Die Schweizer Gerichte entschieden, der Fall sei bereits verjährt. Der EGMR entschied nun, durch die Feststellung der Verjährung vor Ausbruch der Krankheit habe die Schweiz erneut die EMRK verletzt. Hat eine Person aufgrund der Latenzzeit einer Krankheit faktisch keine Möglichkeit, eine gerichtliche Beurteilung einer Streitigkeit zu erlangen, verstösst dies gegen die Rechtsweggarantie. Die Gerichte müssten dies bei der Beurteilung der Verjährungsfrist in Betracht ziehen. Da der Fall bereits 2009 eingereicht wurde, war noch die alte Verjährungsfrist von 10 Jahren anwendbar. Der EGMR hat jedoch festgehalten, dass auch die neue Verjährungsfrist mit der Menschenrechtskonvention nicht vereinbar ist. Das Problem liege nämlich nicht in der Dauer der absoluten Verjährungsfrist, sondern darin, dass der Stichtag für den Beginn der Verjährungsfrist unverrückbar auf das Ende der schädigenden Handlung gelegt wurde.[3] Somit hat der EGMR implizit auch das neue Verjährungsrecht der Schweiz für konventionswidrig befunden.[4]


Verjährungsrecht – quo vadis?

Die Angehörigen des verstorbenen Asbestopfers werden nun erneut an die Schweizer Gerichte gelangen können, um auf der Basis des EGMR-Entscheids eine Zulassung ihrer Klage erwirken zu können. Unklar ist hingegen, wie es für das Schweizer Verjährungsrecht generell weitergehen soll. Ob nun erneut eine Gesetzesrevision notwendig ist, um das Recht konventionskonform auszugestalten, wird davon abhängen, ob die Schweizer Gerichte nun ihre Praxis ändern oder an ihrer aktuellen Auslegung des Verjährungsrechts festhalten.[5]


Bei Fragen zum Thema, stehen Ihnen die Anwälte von Nievergelt & Stoehr AG gerne zur Verfügung. Wenden Sie sich an Claudia Nievergelt Giston (Partnerin, claudia.nievergelt@nist-law.ch), Andrea-Franco Stoehr (Partner, andrea-franco.stoehr@nist-law.ch).


[2] Urteil Howald Moor und andere gegen die Schweiz, Nr. 52067/10 und 41072/11 vom 11. März 2014.

[3] Urteil Jann-Zwicker und Jann gegen die Schweiz, Nr. 4976/20 vom 13. Februar 2024, N 79 f.

[4] Der Entscheid ist zum Zeitpunkt der Redaktion dieses Beitrags noch nicht rechtskräftig. Die Schweiz hat ab dem Urteilszeitpunkt drei Monate Zeit, den Entscheid an die Grosse Kammer des EGMR weiterzuziehen.

[5] Vgl. bereits Widmer Lüchinger, Die Verjährung bei Asbestschäden, ZBJV 2014, 460, 480.




 


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