Vielleicht fliegen Sie diesen Sommer in die Ferien – an die Wärme, in eine interessante Stadt oder ein Outdoor-Abenteuer. Aber dann vermiest Ihnen ein ausgefallener Flug den Ferienanfang oder Sie kommen aufgrund einer grossen Verspätung komplett erschöpft nach Hause. In solchen Fällen könnten Sie gegenüber der Fluggesellschaft einen Anspruch aufgrund der europäischen Fluggastrechteverordnung haben. Der vorliegende Beitrag gibt Ihnen einen Überblick über den räumlichen Anwendungsbereich, die Umstände, unter denen Ansprüche entstehen können, welche Leistungen Ihnen zustehen könnten und wo sie diese geltend machen.
Räumlicher Anwendungsbereich
Die Fluggastrechteverordnung der Europäischen Union (Verordnung Nr. 261/2004; Fluggastrechteverordnung) gilt für Flugpassagiere, die ab einem EU-Staat, der Schweiz, Norwegen oder Island fliegen. Darüber hinaus hat sie auch Gültigkeit, wenn der Zielflughafen in einem der genannten Staaten liegt und die Fluggesellschaft in einem solchen Staat ihren Sitz hat. Auch für zusammenhängende Flüge, welche bei einer europäischen Airline gebucht wurden, deren Verspätung aber erst bei einem Anschlussflug ausserhalb Europas eintrat, war der Europäische Gerichtshof (EuGH) bisher eher grosszügig.[1]
Leistungen und Ausnahmen
Ansprüche können Passagiere haben, denen das Boarding verweigert (zum Beispiel bei Überbuchung eines Flugs), deren Flug annulliert wird oder die mit grosser Verspätung an ihrem Ziel ankommen. Während die Fluggastrechteverordnung für das verweigerte Boarding und die Annullierung die Ausgleichszahlung regelt, ist diese bei grosser Verspätung nicht explizit vorgesehen. Der Europäische Gerichtshof hat aber im Jahr 2009 entschieden, dass eine Verspätung ab drei Stunden ebenfalls entschädigungspflichtig sein kann.[2] Dieser Entscheid ist für die Schweiz nicht direkt bindend. Er wäre jedoch eine wichtige Grundlage für die Auslegung des EU-Luftrechts durch die Schweizer Behörden und Gerichte, sollte es zu einem Verfahren kommen.[3] Unbesehen davon ob bei Verspätungen auch für die Schweiz Ausgleichszahlungen angenommen werden, können bei einer Verspätung von mindestens zwei Stunden Ansprüche auf Betreuungsleistungen entstehen (s. unten «Das können Sie geltend machen»).
Verweigern kann Ihnen die Fluggesellschaft eine Entschädigung, wenn die Verspätung oder Annullierung auf «aussergewöhnliche Umstände» zurückzuführen ist. Aussergewöhnlich ist ein Ereignis, wenn die Fluggesellschaft alle zumutbaren Massnahmen zur Verhinderung getroffen hat und das Ereignis aufgrund seiner Natur für das Unternehmen nicht beherrschbar ist.[4] Entscheide des Flugverkehrsmanagements, politische Instabilität, ungünstige Witterung oder Sicherheitsrisiken werden etwa darunter verstanden.[5] Keine aussergewöhnlichen Umstände hat der EuGH bei der Annullierung eines Fluges aufgrund technischer Probleme am Treibwerk gelten lassen. Solche Defekte seien Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens.[6] Ein Streik kann ein aussergewöhnlicher Umstand sein. Keinen aussergewöhnlichen Umstand nahm der EuGH jedoch bei einem sogenannt «wilden Streik» an. Im damals vorliegenden Fall meldeten sich zahlreiche Mitarbeitenden krank, jedoch nach einer Einigung zwischen Fluggesellschaft und Sozialpartnern.[7]
Das können Sie geltend machen
Gemäss der Fluggastrechteverordnung können unterschiedliche Ansprüche entstehen: Die Ausgleichszahlung für Flugannullierungen und grosse Verspätungen betragen je nach Flugdistanz zwischen EUR 250.00 und EUR 600.00 (Art. 7 Fluggastrechteverordnung). Zusätzlich zur Ausgleichszahlung muss die Fluggesellschaft auch für eine alternative Beförderung (Art. 8 Fluggastrechteverordnung) sowie Betreuungsleistungen wie Mahlzeiten und Hotelunterbringungen (Art. 9 Fluggastrechteverordnung) aufkommen.
Ansprüche aus der Fluggastrechteverordnung müssen direkt bei der durchführenden Fluggesellschaft geltend gemacht werden. Dies gilt auch bei sog. Codesharing: Nicht unbedingt die Fluggesellschaft, bei der Sie gebucht haben, ist haftbar, sondern diejenige, die den Flug durchführte. Erhalten Sie von der Fluggesellschaft keine oder keine zufriedenstellende Antwort, können Sie sich an die nationale Behörde zur Durchsetzung von Passagierrechten wenden.[8]
Weitere mögliche Ansprüche
Bei Flug-Ärger ist die Fluggastrechteverordnung unter Umständen nicht die einzige Anspruchsgrundlage. Weitere Schadenersatzansprüche werden nicht ausgeschlossen (Art. 12 Fluggastrechteverordnung). Haben Sie eine Pauschalreise (z.B. Flug und Hotel beim gleichen Anbieter) gebucht, sind Ansprüche aus Pauschalreisengesetz gegenüber dem Reiseveranstalter denkbar. Auch eine Prüfung von Leistungen Ihrer Reiseversicherung kann sich lohnen. Vielleicht sind Sie sogar über Ihre Kreditkarte reiseversichert.
Da verschiedene Anspruchsgrundlagen infrage kommen, für jeden Einzelfall geprüft werden muss, ob die Rechtsprechung des EuGH auf die Schweiz übertragen werden kann und ob ausserordentliche Umstände vorliegen, kann Ihnen dieser Beitrag lediglich die Grundzüge der Fluggastrechte erläutern. Haben Sie Fragen in einem konkreten Fall, stehen Ihnen die Anwälte von Nievergelt & Stoehr jederzeit zur Verfügung. Mit Ihrer Kontaktaufnahme per E-Mail (info@nist-law.ch) oder telefonisch (+41 81 851 09 10) wird Ihr Anliegen direkt an unseren zuständigen Experten weitergeleitet. Jede Kontaktaufnahme unterliegt der anwaltlichen Schweigepflicht.
[1] Vgl. Urteil des EuGH C-436/21 v. 06.10.2022, Randnummer 31.
[2] Urteil des EuGH C-402/07 und C-432/07 v. 19.11.2009, Randnummer 69.
[3] Vgl. Bundesamt für Zivilluftfahrt, Questions and Answers: Passagierrechte (18.07.2022), https://www.bazl.admin.ch/bazl/de/home/passagiere/fluggastrechte/qestions-and-answers-pax-rights.html, zuletzt besucht am 08.07.2024.
[4] Urteil des EuGH C-402/07 und C-432/07 v. 19.11.2009, Randnummern 2 f.; 67 ff.; Urteil des EuGH C-549/2007 v. 22.12.2008, Randnummer 34.
[5] Europäische Union, Fluggastrechte (08.02.2024), https://europa.eu/youreurope/citizens/travel/passenger-rights/air/index_de.htm#ex-circumstances-delayed-1, zuletzt besucht am 08.07.2024.
[6] Urteil des EuGH C-549/07 v. 22.12.2008, Randnummern 24 f.
[7] Urteil des EuGH C-195/17 und weitere v. 17.04.2018, Randnummer 45.
[8] Die zuständigen nationalen Behörden finden Sie auf der Website der Europäischen Union, National Enforcement Bodies (NEB; 24.06.2024): https://transport.ec.europa.eu/transport-themes/passenger-rights/national-enforcement-bodies-neb_en, zuletzt besucht am 08.07.2024. Für die Schweiz ist das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) zuständig.
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